Jahrzehntelang hat der Westen die Stärke der Sowjetunion überschätzt und gefürchtet. Unterschätzt er jetzt die Schwäche Russlands? Die Gefahren, dass Kernkraftwerke bersten, Atomwaffen einer Bürgerkriegsspartei in die Hände fallen oder der Staatsbankrott Millionen Wirtschaftsflüchtlinge nach Westen treibt, sind zu gross, um an Russland schlicht zu glauben oder es als hoffnungslos abzuschreiben. Es gilt, die eigentliche Schwäche dieses Landes zwischen Aufbruch und Aufruhr zu erfassen. Sie liegt in der Ohnmacht der Gesetze. Russlands Reformer suchen die Zukunft in einer einheitlichen Grund- und Wirtschaftsforschung. Doch die zaristische und kommunistische Vergangenheit hat kein Rechtsbewusstsein hinterlassen, dass Land und Leute, Regionen und Nationalitäten zusammenhält. Ungesichert sind die Grenzen zwischen Kommerz und Kriminalität, Selbstschutz und Selbstjustiz. Verträge werden nicht gehalten. Jeder ermächtigt sich selbst.
Christian Schmidt-Häuer ist langjähriger Rußlandkorrespondent der "Zeit".In seinem neuen Buch beschäftigt ihn die Frage, warum Rußlands Reformen nicht vorankommen, das Land vielmehr immer tiefer in die Krise gerät. Seine These: Die Russen haben immer noch die Untertanenmentalität wie zur Zeit der Zaren, so daß sie kein Rechtsbewußtsein bindet. Die Folge: Neugegründete Firmen erpressen sich in Raubrittermanier gegenseitig, Staatsorgane arbeiten nur mit Schmiergeldern, und die Bürger entwickeln keinen großen Eifer, wenn es um die Bezahlung der Strom- und Gasrechnungen geht. Den Rechtsstaat in Rußland zu etablieren wird nach Ansicht Schmidt-Häuers ein schwieriges Unterfangen sein.
Christian Schmidi-Häuer
Christian Schmidt-Häuer, geboren 1938 in Hannover, gehört seit Jahrzehnten zu den führenden Ost-Europa-Experten. Er ist Korrespondent in Moskau für die Wochenzeitung ``Die Zeit``. Schmidt-Häuers Gorbatschow-Biographie, in der er international als einer der ersten die sowjetischen Reformen analysierte, wurde in der Serie Piper mehrfach aufgelegt und in mehrere Sprachen übersetzt.